Was ist Zen?

Die Grundlage von Zen ist Leerheit (Shunyata) und das Realisieren von Nicht-Selbst (Anatta). Diese beiden Begriffe sind in unserem westlichen Denken nicht vorhanden und daher relativ schwer zu begreifen. Durch die Kunst des Zazen (Meditationstechik des Zen-Buddhismus) können wir sie jedoch durch direkte Einsicht verstehen lernen und in unser Leben einbeziehen. Erst dann, wenn wir erkannt haben, dass alle Dinge leer sind und unser Ich eine Illusion ist – und wir diese Erfahrung auch in unser Leben einbringen –, haben wir das innerste Wesen von Zen realisiert. Es heißt, dass Zen leicht zu üben ist, es aber sehr schwer sei, darüber zu sprechen. In seinen Bestrebungen unterscheidet sich Zen nicht von den anderen Richtungen des Buddhismus. Denn alle gründen sich auf die Vier Edlen Wahrheiten, die Shakyamuni Buddha in folgenden Grundsätzen erkannte:

  • Das Leben ist Dukkha (leidhaft, unbefriedigend)
  • Das Entstehen von Dukkha hat eine Ursache
  • Es gibt einen Weg zur Befreiung von Dukkha
  • Der Weg zur Befreiung ist der Edle Achtfache Pfad

Dieser Edle Achtfache Pfad empfiehlt uns eine Lebensführung, die sich an acht Zielsetzungen orientiert:

  1. rechte Einsicht, Verstehen
  2. rechtes Denken, Absicht
  3. rechte Rede
  4. rechtes Handeln
  5. rechter Lebenserwerb
  6. rechte Anstrengung
  7. rechte Achtsamkeit
  8. rechte Konzentration, Sammlung

Kōans – sprachliche Rätsel als Geistestraining

Der chinesische Meister Linji (japanisch Rinzai), der im 9. Jahrhundert lebte, ist der Begründer der später nach ihm benannten Rinzai-Zen-Schule, der auch das BodhidharmaZendo folgt. Es waren Linjis Persönlichkeit und seine hervorragenden Lehrreden, durch die Zen eine neue Prägung erhielt – nicht zuletzt durch die Betonung der Kōan-Praxis. Koan heißt wörtlich übersetzt: öffentliches Zeugnis, Urkunde. Ursprünglich waren die Kōans eine Sammlung von Mondos – Streitgesprächen zwischen Lehrer und Schüler oder unter fortgeschrittenen Mönchen. Heute ist ein Kōan eine vom Meister gestellte Frage bzw. ein Problem, das der Schüler oder die Schülerin lösen soll. Das Wesen eines Kōans besteht darin, es so zu formulieren, dass die Schüler mit rein logischem und analytischem Denken zu keiner Lösung kommen können. Erst wenn es ihnen gelingt, über ihr dualistisch begrenztes Bewusstsein hinauszugehen, kann durch intuitive Einsicht die Antwort gefunden werden. Die Arbeit mit Kōans dient der persönlichen Unterweisung durch den Lehrer und ist ein gutes Geistestraining für die Schüler. Sie erfolgt hauptsächlich während eines Sesshins (Retreat) in Zusammenarbeit mit einem Zen-Meister oder einer Zen-Meisterin. Seiun Genro Dai Oshō hat bis zu seinem Tod die Kōan-Praxis mit den Praktizierenden des BodhidharmaZendo geübt.

Wie Zen uns vom Leid befreien kann

Zen kann uns also helfen, uns von Dukkha zu befreien. Der Weg dazu führt über Zazen, die Übung der Meditation im Sitzen auf einem Zafu (Kissen) in der überlieferten Körperhaltung. Durch das Praktizieren dieser Meditation finden wir Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«. In einer neuen, radikalen Seinserfahrung entdecken wir unser ureigenstes Wesen, erkennen unser wahres Selbst. Diese Einsicht zeigt uns auch, dass uns und allen Wesen Buddha-Natur innewohnt. Die Rückkehr zu dieser reinen, innersten Natur unseres Seins, mit der wir ursprünglich geboren wurden, erreichen wir im Satori (Erwachen, Erkennen der Wahrheit).
Dieser Bewusstseinswandel, der uns von allen Zweifeln, Ängsten und quälenden Fragen befreit, wird aber nicht aus egoistischen Motiven wie dem Wunsch nach persönlicher »Erleuchtung« angestrebt, sondern zum Wohle aller Lebewesen. Zazen lehrt uns, dass das »Ich« eine Illusion ist. Das Festhalten daran ist die Wurzel unserer Unfreiheit, unseres Dukkha, in all ihren schmerzhaften Ausformungen. Durch die Überwindung unseres wertenden, unterscheidenden, dualistischen Bewusstseins, das ständig dazu neigt, alles in gut oder böse, angenehm, unangenehm oder neutral einzuteilen, wandelt sich aber unsere Persönlichkeit. Wir gelangen zu einer neuen Lebensqualität, die von innerem Frieden, Freiheit, Harmonie, Gelassenheit und unsentimentalem Mitgefühl geprägt ist.

Warum Bodhidharma nach Osten ging …

Es war der indische Mönch Bodhidharma, der im 6. Jahrhundert unter damals sehr schwierigen Reiseverhältnissen nach China kam. Er ließ sich in dem noch heute existierenden, weltbekannten Kloster Shao Lin (Kung Fu) nieder. Der Legende nach meditierte er neun Jahre lang vor einer Felswand. Bodhidharma wird als Begründer und erster Patriarch – heute sagen wir Urvater – der Ch’an- bzw. Zen-Tradition angesehen. Bodhidharma muss ein sehr außergewöhnlicher Mönch gewesen sein, da seine Art, den Buddhismus zu praktizieren, nicht der gängigen Praxis entsprach und doch zu einer starken und einflussreichen Tradition wurde.

Zu jener Zeit widmete man sich vor allem dem Studium und der Auslegung der Schriften, während die Meditation vernachlässigt wurde. Der Schwerpunkt lag also auf dem intellektuellem Verständnis und nicht auf der direkten Erkenntnis der Wirklichkeit. Bodhidharma lehnte diese theoretischen Spekulationen ab. Er zog die unmittelbare Seinserfahrung in der Meditation vor. Damit folgte er Shakyamuni Buddha, der ja durch Dhyana (Meditation) zum vollen Erwachen (Erleuchtung) gelangt war. Diese Rückbesinnung auf die schöpferische Kraft der Meditation wurde bald auch von anderen Mönchen angenommen. Die neue Richtung nannte sich Ch’an – die chinesische Form des Sanskritwortes Dhyana (Meditation). Als Ch’an nach Japan kam, wurde es mit »Zen« übersetzt.

Frei von Illusionen leben

Ziel der Zen-Praxis ist es also, das eigene wahre, vollkommene Wesen zu erkennen, das jeder von uns in sich trägt – im Zen das »wahre Selbst« oder »Wesennatur« genannt. Zu dieser Erkenntnis finden wir vor allem durch das Üben von Zazen und durch stetige, aufrichtige Geistesarbeit an uns selbst. So bringen wir allmählich unser unvollkommenes Bewusstsein zur Vervollkommnung und erkennen die Wirklichkeit. Diese Erkenntnis ermöglicht es uns schließlich, frei von Illusionen und ihren leidvollen Verkettungen zu leben.

Wer weiß, dass alles Seiende von Leerheit (Shunyata) durchdrungen ist und ständigen Veränderungen und der Vergänglichkeit unterworfen ist, wird sich von der Illusion eines getrennt und autonom existierenden Ichs befreien können. Er wird die ursprüngliche Einheit des Universums erkennen, sich selbst als Teil davon begreifen und diese Erfahrung der Nichtdualität auch leben. Daraus ergibt sich die untrennbare Verbindung der Zen-Praxis mit dem »gewöhnlichen« Alltag.
Wie das geschieht? Indem wir die gewonnenen Erkenntnisse konsequent im täglichen Leben umsetzen und selbst banale Tätigkeiten »bewusst« ausführen. So wird das ganze Leben zu einer einzigen Zen-Übung. Im Leben hier und jetzt sieht der chinesische Ch’an-Meister Linji (9. Jahrhundert) auch die größte Herausforderung:

»Das wahre Wunder besteht nicht darin, in der Luft zu schweben oder auf dem Wasser zu wandeln, sondern darin, auf der Erde zu gehen.«

Die in der formalen Praxis gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten – wie auch das theoretische Wissen – müssen also tagtäglich gelebt werden und Eingang finden in den Alltag, in alle Lebensbereiche und Situationen. Ein rein theoretisches Verständnis wäre nutzlos! In diesem Sinn darf die Meditation auch nie zum Selbstzweck oder zur bloßen Gewohnheit werden.

Rinzai modernisiert Zen

Der 6. Patriarch, ein Chinese namens Hui-Neng (638–713), trat später als bedeutendste Persönlichkeit des Ch’an hervor und gilt als eigentlicher Vater des Zen, so wie wir es heute kennen. Er ist es auch, der Zen aus seiner traditionellen klösterlichen Prägung löste und ihm die Freiheit von allen philosophischen und religiösen Bindungen verlieh. Er betonte, dass es nicht notwendig sei, ein von der Welt abgekehrtes Leben als Mönch oder Nonne zu führen, um zur höchsten Erkenntnis zu kommen. Ein Hui-Neng zugeschriebener Vers beschreibt das Wesen des Zen:

»Es ist eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften, unabhängig von Worten und Buchstaben. Sie zeigt unmittelbar auf das Herz des Menschen, lässt ihn die eigene Natur schauen und die Buddhaschaft erlangen.«

Es war Rinzai, der den Menschen in den Mittelpunkt des Zen-Denkens stellte, und um diesen Mittelpunkt eine äußerst kraftvolle und dynamische Weltanschauung errichtete. Meister Rinzai sagte:

»Die Übenden des Buddha-Dharma müssen zuallererst die wahre Einsicht erlangen, also ihr wahres Selbst erkennen. Wer das wahre Selbst erkennt, den können selbst Geburt und Tod nicht beflecken, denn er hat Ursache und Wirkung überschritten. Solch ein Mensch wandelt sich von Moment zu Moment und tritt frei in das jetzt ein.«

Rinzais Sichtweise ist typisch chinesisch, insofern er den Menschen zum Mittelpunkt einer ganzen Weltanschauung macht und darüber hinaus dieser Begriff vom Menschen äußerst realistisch und beinahe pragmatisch ist. Er ist in dem Sinne pragmatisch, als er den Menschen jeweils als das konkreteste Individuum vorstellt, welches an diesem bestimmten Ort und zu dieser bestimmten Zeit lebt, isst, trinkt, sitzt, herumläuft oder selbst seinen natürlichen Bedürfnissen nachkommt. In einer seiner Ansprachen sagte er:

»O Brüder auf dem Weg, ihr müßt wissen, dass ihr in der Wirklichkeit des Buddhismus keine außerordentliche Aufgabe zu verrichten habt. Laßt die Nichtwissenden über mich lachen. Die Weisen werden wissen, was ich meine. Macht euch deshalb frei von Vorstellungen von gewöhnlich und heilig sowie der Gewohnheit, euch selbst niedrig einzustufen und zu denken, der Buddha sei etwas ›Höheres‹. Hört gut zu, was ich lehre: Ihr, die ihr hier, ohne von irgendetwas abhängig zu sein, den Dharma vernehmt, gerade ihr seid die Mutter aller Buddhas! Ohne Unterscheidung zu treffen oder an Formen festzuhalten erlangt ihr den Weg, natürlich und augenblicklich. Ohne irgendwelche Halbheiten, ohne etwas zu übersteigen und nach etwas Besserem zu suchen – nur hier und jetzt, so wie es ist.«

Wie übt man Zen?